Wir folgten wie in Trance den schwebenden, wohlig duftenden Tomatensuppe-und-Bier-Fahnen und fanden uns pünktlich um sechs vorm Eingang der Halle A des Werk II im Süden Leipzigs ein, wo wir fröhliches Schwatzen und mutige Penis-Spiel-Rufe vonseiten der Intelligenzija vernahmen, die keiner von uns – so schüchtern (weil nüchtern) wie wir alle noch waren – in der Lautstärke überbieten wollte.



At Dawn We Rage


Im Werk II fand am 2. Novembertag das vorletzte Aufeinandertreffen von Bands und Fans während der wohl melodisch-heftigsten Tour des Jahres statt. Die Impericon NEVER SAY DIE! Tour führte in diesem Jahr seit 12.10. acht Acts für zwanzig Konzerte in elf Ländern querfeldein durch ganz Europa. Darunter waren Stopps in Paris, Birmingham, Manchester, London, Den Haag, Stockholm, Wien, Prag, Köln, Berlin, Hamburg, München … und natürlich einer in der Welthauptstadt Leipzig. Laut Auskunft einer Kartenverkaufsdame waren die Tickets außerordentlich beliebt und ein paar Tage vorm Konzerttermin langsam rar geworden. Am 3.11. war der ganze Zauber vorbei, es bleiben nur die Nackenschmerzen, der Kater und dieses Glücksgefühl …

At Dawn We Rage
At Dawn We Rage

Trotz des langen Tourwegs, den die Bands schon fast vollständig hinter sich gebracht hatten, war am 2.11. von Ermüdung keine Spur. Die Fete begann pünktlich und recht überraschend um 18:35 mit der Dubstep-Show von At Dawn We Rage. Ein Mann mit Brille, Cappie und Hoodie (Bühnenname: Stormy) hatte die Bühne ganz für sich (eigentlich handelt es sich um ein Duo aus Arizona, sozusagen minus DJ/Drummer Travis) und sorgte für einen sehr gelungenen musikalischen Einstieg. Es war das erste Mal, dass ein Act sich außerhalb der für die Tour üblichen Genre-Grenzen bewegte – ein Kunstgriff, denn interessanterweise legte dieser Auftritt den musikalischen Grundstein des Abends, auf dem die anderen Bands (einige mehr, andere weniger) stilistisch aufbauen konnten, wobei die Genregrenzen fühlbar zu zerfließen schienen. Die ersten Beats, die die Halle durchdrangen, zogen frühe Ankömmlinge vor die Bühne. Nach zwanzig Minuten feinsten US Dubsteps verabschiedete sich At Dawn We Rage höflich und überließ die Bühne dem Umbau. Schade nur, d.h. gemein eigentlich, dass man die Tore des Werks nicht wie angekündigt um 18:00 geöffnet hatte, sondern viel zu spät, die Musik aber derweil drinnen pünktlich startete. Der erste Auftritt des Abends war also gelaufen, aber die WerkII-Schränke am Eingang immer noch nicht aus dem Knick gekommen. So wurden viele Leute vom eigentlichen Showbeginn ferngehalten. Das tut natürlich nicht nur den Musikinteressierten, sondern auch irgendwie dem Künstler weh. Unser Vorteil also, dass wir peinlich pünktlich da waren und uns einen Platz in der Schlange vorn gesichert hatten.

The Browning
The Browning

Band Nummer zwei des Abends und super Überleitung von Dub zu Wrooom! waren The Browning, eine fünfköpfige Metal-Electronica-Band aus Dallas (Texas) und Kansas City (Missouri) mit langen Haaren, sexy Murmelbäuchen und einer Vorliebe für Headbangs. Sänger Jonny McBee (Ex-Vokalist von As Blood Runs Black) produzierte das aktuelle Album dieser Band („Burn This World“), eine Bastelei, der wohl eindeutig die Suche nach etwas ganz Neuem vorangegangen ist. Synthie-Sounds, die man mal als sphärisch und mal als „eerie“ beschreiben könnte, verschmolzen mit allem, was sich Metal nennen darf. Dass das genial zusammenpasst, haben zwar auch schon andere bewiesen, doch treiben die Amis das Spiel mit schnellen Drums und mehr Screams und Growls weit weg davon in virtuelle finstere Gefilde. Die Band verfehlte es nicht, mit dieser gelungenen Mischung dem Publikum fürs Erste einzuheizen.

At the Skyline
At the Skyline

Im Anschluss (und hier muss man mal bemerken: die Umbauzeiten waren echt saukurz und reichten geradeso, um in der Klo-Schlange vorzudrängeln und sich noch ein Bier zu greifen …) stürmten At The Skylines die Bühne, auch gar nicht Crossover-scheu: ein bisschen Boybandgesang mit leuchtenden Melodien voller Licks, Trills und Runs, Pop-Keyboard-Klängen, dann wieder Screams und Growls, infernale Metalcore-Riffs, Breakdowns – und das Ganze verdichtet mit Synthie-Sounds, um nur einige Elemente zu nennen. Eklektizismus pur. Mit ihrem aktuellen Album „The Secrets To Life“ (2012, produziert von Fredrik Nordström) beweist die junge Truppe, dass dieses verrückte Paket viel verspricht und alles hält. Da der Screamer/Growler Mark Barela noch auf dem Album zu hören ist, aber aus Familiengründen (Ladys, Babys …) die Band kürzlich verlassen hat, muss nun fürs Erste Sänger Chris Shelley (Clean Vocals, Screams – jetzt mehr denn je) allein die Front stellen. Dennoch wirkte sich das Fehlen eines Bandmitglieds nicht negativ aus, im Gegenteil, Gesang und Screams waren trotzdem überzeugend. Darüber hinaus wirkte der rauere Live-Einschlag und das Wegfallen einiger Gesangsschnörkel homogener als die Mischung mit absolut cleanen Vocals auf der neuen Scheibe, auch wenn das viele, die sich zu sehr in die Aufnahmen reingehört haben, im Umkehrschluss bei Live-Shows enttäuschen könnte. Nicht zuletzt durch den neuen Einschlag und wegen der fehlenden Möglichkeit zur Arbeitsteilung stellt sich die Vielfältigkeit dieses Sängers nun eher heraus als bisher.



Obey The Brave


Next up: Die Kanadier (mit dem französischen Touch) Obey The Brave sind new, sind Canadian, sind Metal, hard und Core! Gegründet wurden Obey The Brave erst 2011, unter anderem aus Ex-Mitgliedern der Bands Despised Icon (wie Sänger Alexandre Erian) und Blind Witness. Das Debütalbum „Young Blood“ (Epitaph Records) liefert rohe Energie in gebündelter Form, die auf die Bühne mühelos übertragen wurde. Es gab also ab circa 20 Uhr (Primetime!) unnachgiebige Screams und mal keine Gesangsparts auf die Ohren, in den Refrains flossen dann tragende Gitarrenmelodien ein, ganz ohne die zuvor gehörte Verdichtung durch Synth-Klänge. Eine echte Abwechslung im Programm und die einzige Band des Abends mit einem straighten, kaum eklektischen Sound. Die Menge fing hier zum ersten Mal ungezügelt mit dem Crowd- und Bühnenabsperrung-Übersurfen an und hielt die hilfsbereiten Securities in Aufregung. Ein grinsender Metal-Freak nach dem anderen wackelte dann an der Bühne vorbei Richtung Crowd-Bereich zurück, manche nicht ohne dem Leadsänger noch höflich die Hand zu schütteln.



For The Fallen Dreams


Mittlerweile, d.h. nach vier Performern, klebte der Boden wie Hölle. Wann erfindet denn jemand ein Getränk, das beim PokenMoshenSurfen nicht verkippt werden kann? Oder den Bierbecherdeckel für große Kinder … Bei Act Nummer fünf musste man sich also nach einer kurzen Pause gegen die dreifache Bodenhaftung wie in Traumsequenzen Richtung Bühne vorkämpfen. For The Fallen Dreams aus Michigan, 2003 gegründet, präsentieren sich seit 2008 mit dem neuen, schätzungsweise von oben bis unten tätowierten Sänger Dylan Richter. Nebenbei bemerkt wurde bisher jeder in der Gründungsformation bis auf eine Person ersetzt. Mit dem neuen Album („Wasted Youth“, 2012) wagte man es, eine sanftere punkrockigere Klangseite blicken zu lassen und dabei doch das weite Feld namens Metalcore nicht vollends zu verlassen. Mit viel Pathos wurden uns die neuen Songs aufgetischt, als Zwischensnack gab’s ne Tattoo-Show, da das unbedruckte Shirt von Mr. Richter unmittelbar nach Beginn des Auftritts wegflog und die Sicht auf viel bedruckte Haut freigab, und als Sahnehäubchen einen publikumsnahen Balanceakt auf der Absperrung. Dem Wunsch nach Publikumsnähe vollständig nachzugeben, hieß dann anscheinend auch, direkt nach der Show klatschnass und mit Handtuch um die Schultern an der Barriere vorbei in den Publikumsbereich zu spazieren und die Existenz eines Backstage-Bereichs zu ignorieren.

Stick To Your Guns
Stick To Your Guns

Some stick to their guns while others stick to the floor … Spätestens als die Amis von Stick To Your Guns auf der Bühne erschienen und ihre neuesten O.C.-California-Hardcore-Songs (aus „Diamond“, 2012, Sumerian Records - unverkennbar mit dem Diamant-Logo) schmetterten, häuften sich waghalsige Crowdsurfs, anders war ja kein Nachvornekommen mehr möglich, sodass die Barriere schon ein bisschen wackelte. Die Menge sang und grölte die eingängigen Refrains mit. Zwischendrin wurden von Sänger Jesse Barnett (Gründer der Band) auch ganz profunde Lebensphilosophien geteilt wie „Live your fucking life!“ (Kann man’s denn besser formulieren?) und auch in Sachen Sozialpolitik kein Blatt vor den Mund genommen. Man hat nur selbst die Wahl, diese Welt zu einem besseren (id est: liberaleren) Ort zu machen. Des Weiteren wurde von der Band angesprochen, dass der Sänger von Suicide Silence, Mitchell „Mitch“ Adam Lucker, zwei Tage zuvor bei einem Motoradunfall verunglückt und am Morgen des 1. November verstorben war. (Er hinterließ Frau und Kind.) Die Band zeigte sich besonders betroffen, weil man in derselben Gegend in Südkalifornien aufgewachsen und mit Mitch und Co. befreundet war. Ihren letzten Song widmeten sie daher allein ihm. Erst letztes Jahr waren Suicide Silence Headliner der Impericon Never Say Die! Tour gewesen … Jetzt häufen sich auf Youtube, unter Metalcore-Band-Videos jeglicher Art, die „R.I.P. Mitch Lucker“-Kommentare. Dem bleibt wohl nichts mehr hinzuzufügen.



Blessthefall


Trotzdem weiter im Programm: Mit frischen Songs von „Awakening“ (2011, Fearless Records), ihrem aktuellen Album, stürmten Blessthefall aus Phoenix, Arizona, als vorletzte Band des Abends die Bühne. Sänger Beau Bokan (seit 2008, früher Take The Crown) und Gitarrist Eric Lambert als Screamer kombinieren ihre Stimmen zum allgemein bekannten Clean-Harsh-Vocals-Schlagabtausch, wobei auch hier poppigere Gesangsfarben einfließen. Viele Diver landeten erneut auf der anderen Seite der Barriere, weswegen sich Beau Bokan im Gegenzug in Richtung Publikum warf. Trotz Kletterpartien gelang der Gesang live teilweise besser als in den Aufnahmen, vielleicht aus selbigem Grund wie bei At The Skylines – auch das ist natürlich rein subjektiv. Weniger ist aber manchmal mehr und der blumige Gesangsstil sowie die, wie ich finde, nicht allzu solide Gesangsleistung aus dem Studio, sind einfach nicht jedermanns Sache. Von daher, Daumen hoch.



We Came As Romans


We Came As Romans
We Came As Romans

Zuletzt zogen die Headliner der Tour, We Came As Romans (ja, sic! – auf manchen Tickets stand ja lustigerweise „We Came As Romance“, da muss jemand was verwechselt haben …), ins Feld – also auf die Bühne, das dickste Banner mit den fettesten Lettern ever als Rückendeckung und bewaffnet ebenso mit doppelter Stimmbesetzung durch David Stephens (Growls, Screams; mit kariertem Hemd) und Kyle Pavone (Gesang). Es folgten ausgereifte Post-Hardcore- und Metalcore-Gitarrenriffs, Breakdowns, und ein satter Background aus elaborierten Electro-Elementen, die die Songs vom aktuellen Album „Understanding What We‘ve Grown to Be“ (2011) ausmachen. Im Gegensatz zu vorherigen Bands war zwar nicht wirklich eine Stimmungssteigerung zu verzeichnen, was man bei der Uhrzeit nicht auf die allgemeine Müdigkeit schieben konnte, dennoch feierte man die Headliner mindestens gebührend. Nachdem das Publikum mehrmals erfolgreich „bestiegen“ worden war (siehe Foto), wurden die Amerikaner vor dem finalen Song selbst auch noch ein Wörtchen über Mitch Lucker von Suicide Silence los. Der Abend gehörte eindeutig auch seinem Gedenken.

Pünktlich um halb 12 – man soll ja aufhören, wenn’s am schönsten ist – verabschiedeten sich die Römer mit Sieg und Ruhm in den Taschen und zogen zum finalen Angriff weiter. Damit war der glorreiche Abend in Leipzig beendet. Wir begaben uns nach Hause und mit Sägen in den Ohren zu Bett. Bis nächstes Jahr dann!