Ehrlich gesagt waren The Ocean für mich bisher immer ein persönliches musikalisches Fort Nox. Je näher ich ihrem metallischen Komplex kam, desto mehr faszinierten sie mich. Aber bei jedem Schritt hin zum Kern ihres Wesens hatte ich gleichzeitig das Gefühl, von Stacheldrahtzäunen der Unzugänglichkeit und schießwütigen Wachposten der Unverträglichkeit vom Faszinosum, dem „Inneren Heiligtum“, des Kollektivs abgehalten zu werden. Und mit genau dieser Erfahrung im Rücken ließ ich nun ein weiteres Mal den Ozean auf mich hereinstürzen – nur um festzustellen, dass es diesmal keine Zäune mehr gibt, keine Wachposten oder andere Verteidigungsanlagen...

Denn was das arg geschrumpfte Berliner Kollektiv mit „Heliocentric“, dem ersten von zwei zusammengehörigen Alben – „Anthropocentric“ soll im Herbst erscheinen –, hier zur Welt gebracht hat, ist kaum noch zu vergleichen mit allem bisherigen Schaffen. Das wabernde Intro erinnert ein wenig an Tools abgedrehte Zwischenstücke der jüngeren Vergangenheit, und „Firmament“ beginnt sogar mit einer rhythmischen Raffinesse, die besagten US-Amerikanern äußerst nah liegt. Und trotzdem kommt sofort eine absolut einzigartige Stimmung auf, die durch den vokalischen Neuzugang Loïc Rossetti tausendfach verstärkt wird. Sein unheimlich angenehmer Gesang, der zu Zeiten (und vor allem in „Epiphany“) spürbare Gemeinsamkeiten zu Trent Reznor (Nine Inch Nails) aufweist, gibt der Musik von The Ocean eine neue Tiefe, die vorher undenkbar gewesen wäre. Die ungezügelte Rohheit vieler bisheriger Stücke ist auf „Heliocentric“ endgültig domestiziert worden.

Dynamisch bis zum äußersten waren die Songs der Berliner schon immer, aber was mir bisher fehlte, war eine gewisse Eingängigkeit der Songstrukturen. Vielleicht des öfteren mal ein wiederkehrendes und zu erkennendes Riff, auf das sich ein Song aufbaut, Hooklines oder Gesangslinien. Nun endlich haben sie genau das umgesetzt, wobei sie ihre härtere Seite, die vor allem auf der Doppel-CD „Precambrian“ im Vordergrund steht, nicht verleugnen. Bereits in besagtem „Firmament“ gibt es Post Metal-Einbrüche im bestem Neurosis- oder Isis-Stil. „The First Commandment Of The Luminaries“ beginnt mit verzerrten Gitarren, nur um kurz darauf in einen ruhigen, von Streichern unterstützten, Strophenteil überzugehen, an den sich der wiederum verzerrt eingespielte Refrain anschließt.

Auf „Heliocentric“ dominieren vielerorts Melodien, vor allem durch Loïc Rossettis Gesangslinien, wie es sie beim Kollektiv vorher nicht gegeben hat. Doch in Kitsch gleitet es selbst bei der traurigen Ballade „Ptolemy Was Wrong“ niemals ab. Hier und da sind stets Ecken und Kanten in die Harmonien eingebaut, die beim ersten Hören ungewohnt klingen, die ich jedoch schnell lieben gelernt habe.

Auch was die Schlagzeugarbeit anbelangt, haben The Ocean bei der Komposition darauf geachtet, differenzierteren Gitarren, der Stimme Rossettis sowie atmosphärischen Teilen immer Raum zur Entfaltung zu geben. Und trotzdem erlauben sie sich so geniale Experimente wie den Drum’n’Bass-Teil in „The First Commandment Of The Luminaries“, der wunderschön vom Bass-Spiel Louis Juckers unterstützt wird.

Das Konzept des Albums, die Geschichte der Menschheit anhand ihrer sich ändernden Weltbilder zu erzählen, geht vollkommen auf. Angefangen vom Heliozentrismus bis zum Geozentrismus, der Aufklärung und des Darwinismus bis hin zu Nietzsches wohl berühmtestem Zitat „Gott ist tot“ wandeln The Ocean auf den Pfaden von Ansichten und Persönlichkeiten, die die Welt verändert haben. Dabei haben sie ihren Plan nicht nur auf musikalischer und textinhaltlicher Seite zur Perfektion getrieben, sondern auch die Gestaltung des Artworks von „Heliocentric“ in Dimensionen ausgedehnt, die jedem audiophilen Sammler einfach nur Tränen in die Augen treiben. Wer die CD-Box besitzt, in die später „Anthropocentric“ mit eingefügt werden kann, schaut staunend auf ein Digipack, das auf drehbaren Scheiben die Sonne sowie die inneren und äußeren Planeten und die Tierkreiszeichen bzw. eine Sternenkarte darstellt. Die Texte der Songs sind jeweils auf die Rückseite einer eigenen Tarotkarte gedruckt. Hier gibt es mindestens so viele Details zu entdecken, wie in der Musik des Kollektivs.

Kurzum: Kein Stein wurde auf dem anderen gelassen, um in jeder Hinsicht das Beste vom Besten herauszuholen. Und ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, wie „Heliocentric“ noch getoppt werden sollte. Um so gespannter bin ich auf „Anthropocentric“, das hoffentlich ähnlich emotional und eingängig, vielseitig und dynamisch, aus einem Guss und wegweisend daherkommt.

Dieses Fort Nox ist für mich geknackt! The Ocean haben in ihrem Genre mindestens das Album des Jahres herausgebracht und geben sicher nicht nur mir, sondern auch anderen Verneinern der bisherigen Unzugänglichkeit der Band die Chance, von „Heliocentric“ aus mit neuem Mut noch einmal auf die Vorgänger „Fluxion“, „Aeolian“ und „Precambrian“ zu blicken. „Heliocentric“ ist ein Meilenstein der progressiv-metallischen Musikgeschichte, für den mindestens die 11 auf der Richterskala von Metal Impetus eingeführt werden müsste. Pflichtkauf!!!

The Ocean · Heliocentric · 2010

Redaktion

verfasst von ewonwrath
vom 22.06.2010

10 / 10

Playlist

01 - Shamayim
02 - Firmament
03 - The First Commandment Of The Luminaries
04 - Ptolemy Was Wrong
05 - Metaphysics Of The Hangman
06 - Catharsis Of A Heretic
07 - Swallowed By The Earth
08 - Epiphany
09 - The Origin Of Species
10 - The Origin Of God